Ein Fallbeispiel aus der Schule (Download Fallbeispiel Schule)
Den folgenden Brief geben wir hier (in verkürzter Form) wieder, weil das Problem von Mobbing in der Schule weit verbreitet ist und bisher anscheinend noch nicht genügend ernst genommen wird.
Liebe Frau Fleissner,
nach meinen Mobbingerfahrungen hat mir der Wechsel der Schule gut getan. Dennoch holt mich die Vergangenheit immer wieder ein. Ich frage mich, wie es angehen konnte, dass kein Lehrer meine Misere bemerkt hat. Es muss doch auffallen, wenn eine Schülerin immer allein sitzt bei Gruppenarbeiten. Wie kann es passieren, dass ich zum Jugendamt bzw. zur Schulpsychologin gehe, alles weinend erzähle und niemand mir wirklich hilft.
Das ist doch Wahnsinn! So kann man sich doch nicht verstellen, oder!? Eine sensiblere Person hätte sich schon längst was angetan! Gestern blätterte ich in meinen alten Tagebuchaufzeichnungen und kam zu dem Tag, wo ich auf dem Jugendamt war. Ich hatte der Frau dort erzählt, welche Ängste ich hatte. Weil ich auch Angst vor den Folgen hatte, wenn ich das zuhause ansprechen würde, bekam ich den Rat: „Sag am besten gar nichts“. Wie kann einer Jugendlichen so etwas gesagt werden, wenn sie sichtlich daran zu knabbern hat!? Mir ist das damals gar nicht aufgefallen, aber so etwas darf doch nicht passieren! Es war ja auch nicht so, dass sie mir noch irgendeine Anlaufstelle verraten hat, an die ich mich wenden könnte.
Es darf doch nicht geschehen, dass sich eine Jugendliche mit Problemen an eine Einrichtung wendet und keiner hilft! Nicht allen, die Hilfe brauchen, Selbstmordgedanken haben, fällt noch ein anderer Ausweg ein. Weder das Sorgentelefon noch das Jugendamt noch die Schulpsychologin noch ein extra auf das Problem aufmerksam gemachter Lehrer konnten mir wirklich weiterhelfen. Seit einigen Tagen überlege ich nun, ob man nicht warnen kann. Irgendwie muss man doch diese Einrichtungen wachrütteln, sonst kann man sie auch gleich ganz schließen. Oder Eltern den Tipp geben, auf Freunde der Kinder, die Musik (in meinem Falle gerade auf die Texte), das allgemeine Verhalten usw. zu achten. Meine Mutter hätte so oft anhand der Musik hören können, wie es mir ging. Ich habe zum Beispiel ganz oft „Rache“ von der 3. Generation gehört. Darin geht es um einen Jungen, der auf seiner Schule mächtig fertig gemacht wird, nach einiger Zeit sich eine Waffe besorgt, um die Idioten abzuknallen, und sich schlussendlich selbst erschießt. Dieser ganze Text ist auf Deutsch und gut verständlich. Ich habe schon aus Protest und als Hilfeschrei dieses Lied laut gespielt, aber meinen Sie, (m)eine Mutter achtet auf so was? Nein! Nun wird nicht jedes Kind mit solcher Musik auf so was reagieren, aber das wäre doch zumindest ein Tipp für Eltern, die sich wirklich um ihr Kind kümmern wollen und mal Zeit für das Kind haben.
Es macht mir Angst, dass ich die Geschichte vielleicht nur verdrängt, aber nicht verarbeitet habe. Mir fällt auf, dass ich immer noch sehr verschlossen bin. Ich fresse immer noch alles in mich rein. Und ich habe Angst, wieder so verletzt zu werden. Aber so wirklich habe ich wieder keinen, mit dem ich darüber reden will (können würde ich bestimmt schon, und einige würden mir auch gern zuhören, aber ich kann mich einfach nie ganz öffnen), und das macht mir wirklich Angst. Eigentlich wollte ich auch Ihnen nicht schreiben, da Sie sich ja langsam fühlen müssen wie mein gedanklicher Papierkorb. Es ist mir sogar fast peinlich, mich so öffnen zu müssen, aber ich habe gelernt, dass so etwas gut tut. Es ist auch leichter, das Ganze brieflich zum Ausdruck zu bringen, als persönlich vor jemandem zu sitzen und alles zu erzählen. …
Außerdem kriege ich per Brief auf diese Entfernung nicht mit, wenn Sie sich über meine Sorgen lustig machen (was ich Ihnen damit nicht unterstellen will, aber ich hoffe mal, Sie verstehen, wie das gemeint ist). Ich weiß auch so absolut nicht, wie ich das ändern kann. Wie kann ich meine Verschlossenheit ablegen? Wie soll das gehen, wenn man panische Angst vor neuen Wunden hat?
Anonyme Verfasserin
Eine allgemeine Antwort:
Das Problem von Mobbing ist in der Schule weit verbreitet, wird aber bisher anscheinend noch nicht ernst genug genommen. Dabei findet in der Schule eine wichtige Weichenstellung statt. Wer hier bereits lernt, Konflikte rechtzeitig zu lösen und nicht zu Mobbing ausarten zu lassen, wird auch später an seinem Arbeitsplatz erfolgreich zur Aufrechterhaltung des Betriebsfriedens beitragen können. Inzwischen gibt es genügend viele Modellprojekte zur Mobbing-Abwehr in Schulen, die von Schülern selbst oder auch von interessierten Eltern als Beispiele herangezogen werden können. Ein Heranwachsender, der in seinem Selbstwertgefühl verletzt wird, entwickelt notgedrungen eine pessimistische Haltung. Je schlimmer die Erfahrungen sind, desto größer ist die Gefahr, dass die Gefühle abstumpfen. Mit dem Rat: „Sag am besten gar nichts“ wird nicht Mut gemacht, sondern das Duckmäusertum unterstützt. Der Brief zeugt von dem Willen, sich zu wehren. Das Reflektieren dieser Situation und die Feststellung: „Aber so etwas darf doch nicht passieren!“ ist das eine, das andere ist die Eröffnung von Auswegen, die Erkenntnis, dass in der Zukunft Spielraum für konstruktive Lösungen gegeben ist. Auch wenn eine Chance noch so klein erscheinen mag, ist sie ein Ausgangspunkt für optimistisches Zupacken. Wer behauptet, es habe doch alles keinen Zweck, behält mit seinem Pessimismus in jedem Falle Recht, solange er nichts zur Änderung unternimmt.
Für viele Menschen bleibt es ein unerfüllter Wunschtraum, seinem Leben in friedlicher Gemeinschaft Sinn zu geben. Mit der philosophischen Erkenntnis, dass der Weg das Ziel sein sollte, lässt es sich ertragen, nur sehr langsam und eingeschränkt diesem Wunschtraum näher kommen zu können. In der einen oder anderen Form macht sich jeder, der Schlimmes erlebt hat, Gedanken, wie er bei der nächsten Katastrophe am besten reagiert. Die damit verbundenen Ängste können so unerträglich sein, dass man seinem Leben lieber ein Ende machen möchte oder sich zumindest ganz tief in sein Schneckenhaus verkriecht. Sobald man abgestumpfte Gefühle durch Selbstkasteiung wieder zu wecken versucht, sollte man wissen, dass stattdessen auch eine Verhaltens- oder Gesprächspsychotherapie in Erwägung gezogen werden kann. Ansonsten kann man den Grad seiner Verschlossenheit auch durch vorsichtiges fragendes Herantasten im Bekanntenkreis allmählich verringern, sobald man merkt, dass man auf Resonanz stößt. An dieser Stelle erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich nicht nur Mobbing und Gewalt in der Schule, sondern auch sexueller Missbrauch in der Kindheit verhängnisvoll auf die weitere Entwicklung auswirken. Vorrangig muss man sich auf die Suche machen nach einer vertrauenswürdigen Person, mit der man über seine Probleme reden kann. Wer niemanden weiß, kann heutzutage auch das Internet nutzen und seine Gedanken und Probleme in anonymisierter Form zum Beispiel im Forum von KLIMA e. V. darlegen.
Alfred Fleissner, Öffentlichkeitsarbeit von KLIMA e. V.
Download Fallbeispiel Schule
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